Über „Beethoven_off_set“ für Orchester und Ensemble
“Ich habe gefunden“, sagte er, „es soll nicht sein“. „Was, Adrian, soll nicht sein?“ „Das Gute und Edle“, antwortete er mir, „was man das Menschliche nennt, obwohl es gut ist und edel. Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt und was die Erfüllten jubelnd verkündet haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen, ich will es zurücknehmen.“ Ich verstehe dich, Lieber, nicht ganz. Was willst du zurücknehmen?“ „Die neunte Symphonie“ erwiderte er. Und dann kam nichts mehr, wie ich auch wartete. (Thomas Mann, Dr. Faustus)
Diese Sätze, die Thomas Mann den Protagonisten Adrian Leverkühn gegen Ende des Romans sprechen lässt, entstanden unmittelbar, nachdem dieser Bilder aus den befreiten Konzentrationslagern gesehen hatte. Diese Passage aus dem Roman hat mich nachhaltig beeindruckt und war eine der wichtigsten Anregungen bei der Komposition. Das Stück entstand zwischen 2015 und 2019.
In „Beethoven_ off_set“ steht dem Orchester der „Neunten“ ein zeitgenössisches Ensemble aus Orchestermusikern gegenüber. Die Tempi der beiden Instrumentengruppen sind zeitlich so koordiniert, dass die Partitur von einem Dirigenten geleitet werden kann.
Besetzung
Originalbesetzung der „Neunten“
2 Fl. (+Picc.) 2 Ob., 2 Klar. In B, 2 Fag. (+ Kontrafagott)
2 Tr. in D undB, 4 Hörner in B,D, Basso, Es)
3 Posaunen (Alt, Tenor, Bass)
Pauke, große Trommel
Streicher (10-8-6-4-2)
Ensemble:
2 Fl. 2 Ob., 2 Klar. In B, 2 Fag. (+ Kontrafagott)
2 Tr. in B, 2 Hörner in F
1 Posaune
Tuba
Schlagzeug (drei Spieler)
Oceandrum, 6 Autohupen, Fahradklingel in D
2 hängende Becken, Tam-tam, Maracas
Drei Gongs, Templeblocks, 2 große Metallbleche (Platten)
Große Trommel, Glockenspiel, Vibraphon, Congas, Guero,
Streicher: (5-4-3-2-1)
Liveeingespielte Instrumente
Altblockflöte, Oboe, Bassklarinette,
Akkordeon, Klavier, Solo-Violine, Kontrabass,
Zuspiel+Video im zweiten und letzten Satz
Solistenchor (Doppelquartett, „live“-eingespielt)
Sopran (2) Alt (2) Tenor (2) Bass (2)
Werkbeschreibung
Leicht verfremdete Fragmente aus allen vier Sätzen der neunten Symphonie von Ludwig von Beethoven bilden die Grundlage der Komposition. Das dem Orchester gegenübergestellte Ensemble greift die klassischen Figuren „seismografisch“ auf und entwickelt hieraus neue Motive und Klänge, die in eine zeitgenössische Musiksprache übertragen werden. Alte und neue Spieltechniken, in etwa vergleichbar mit einer Ausstellung von analogen und digitalen Fotos, werden einander gegenübergestellt.
Im ersten Satz wird etwa das Obertonspektrum des Zentraltons A in einer hauchzarten Fläche aus Flageoletttönen über das ganze Ensemble ausgebreitet. Die durchweg gedämpften Streicher des Orchesters lassen die beethovenschen Sforzati wie aus der Ferne erklingen.
Im Scherzo werden die Repetitionen des Themas immer weiter ausgedehnt und in rasenden Tempi ad absurdum geführt. Im Mittelteil imitiert das Ensemble Autohupen, Geräusche von der Straße und aus der Cafeteria. Das Geschehen aus dem „Off-Bereich“ wird zum Mittelpunkt des Bühnengeschehens. Das Publikum bekommt durch die Verschiebung der Klang- und Zeitebenen die Illusion, einem Konzert aus weiter Ferne beizuwohnen, und befindet sich doch inmitten der Aufführung.
Das Adagio des dritten Satzes ist verwoben mit verfremdeten Zitaten aus vier jüdischen Gettoliedern. (Es shlog die Sho, Makh zu die Eygelkn, Minuten der Zuversicht, Baby Yar). Die humanistische Getragenheit und Innigkeit der beethovenschen Musik begegnet hier unmittelbar dem Schrecken und der Tragik der deutschen Geschichte. Immer wieder blitzen einzelne Melodiefetzen des Adagios auf, wie Schimmer der Hoffnung, die in ein Inferno geworfen werden.
Zu Beginn des vierten Satzes spielen beide Instrumentengruppen im äußersten ff, um dann plötzlich im gespenstischen Pianissimo zu erstarren. Es ist, „als würde eine Tür aufgerissen, die hastig wieder zugeworfen wird“. Im Gegensatz zum Original werden die „obligatorischen Rezitative" von Solisten wie Kontrafagott, Bassklarinette, Cello und Klavier getragen. Die populäre „Götterfunken-Melodie“ erschein verfremdet in einer Gruppe aus Spielzeugklavier, Celesta, Crotalis und Glockenspiel, während die Orchestermusiker Fragmente der schillerschen Ode rezitieren. Der aus acht Solisten bestehende Schlusschor singt und summt durchweg mit geschlossenem Mund.
Auf dem Höhepunkt des Finales setzt eine Videocollage des Berliner Filmemachers Frank Bertram ein. In dieser erscheinen neben abstrakten Landschaften auch Filmausschnitte aus historischen Aufnahmen der Neunten, wie etwa dem legendären Furtwänglerkonzert vom 20.4.1942 als auch Fragmente aus dem Filmklassiker Nostalgia von Andre Tarkowski. Im Gegensatz zum jubelnden Finalsatz der Neunten verebbt meine Komposition antizyklisch im vierfachen Pianissimo, in weitester Ferne.
Andreas F. Staffel
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