GEDICHTE AUS DEM MULTIMEDIALEN BÜHNENSTÜCK „HÄUSER – ZEILEN – UMBRÜCHE“

JEDER BEZIRK DIESER STADT IST EIN TEIL
MEINES KÖRPERS.
DIE LINIEN VON S- UND U-BAHN SIND DIE ADERN
MEINES BLUTKREISLAUFS.
JEDE PFÜTZE IST MEIN SPIEGEL.
KUBIK
ehemaliger Technoclub in der Köpenicker Straße
Nur einige Kubikmillimeter
von dem Himmelblau trennt ihren Saum vom
Säumigen.
So rinnt Morgentau … nur einige Milligramm
Sand im Stundenglas der
Gezeiten
Zerteilt von Millionen Reifen
ersticken die Rillen im Stein.
Wie Zeiger durchdrehend
sich doch nicht erreichen,
verharrend – auf Klippen
– allein.
Neonblau leuchten die Halme am Fluss,
eiserne Beats betäuben die Ohren.
Ruderschlag bricht durch die Mitte der Nacht,
zweifach im geraden Achtertakt klatscht
traumlos die Welle den Morgen
stromab.
ÜBER DEM GOLF VON ADEN
für Arthur Rimbaud, Dubai, 27. Oktober2007
Sperma und Tränen
Blut in marmornen Venen – dort wo
die Gangway verschwimmt in den Strichcodes
im Spalier von Tausenden schwarzer Wimpern
nachgezogen kosmetisch
zum blutleeren Kosmos
Auf dem Rollfeld Tragflächen hoffnungsstarr
metallisch die Stille
horizontal in die Pappbecher
trieft das staubige Blau der Minarette
nachmittagsträge die Märkte,
der Hafen, schweigende Segel,
rot nur der Aufschrei aus brennendem Sand
Hier gedenke ich des Alchimisten,
seiner Silben, Tücher auf Karawanen,
entflohen dem Spülwasser der Wissenschaft
dorthin wo lautlos die Wüste niederstreckt
all die goldenen Dünen
und der Halbmond
schmerzhaft zieht die staubige Kehle hinab
DER RISS
An D.
Durch unser Bild geht ein Riss, es
schneidet das Glas in die Adern
splitternd, der Rahmen wird fallen,
die Augen – wie bunte Murmeln –
springen heraus in den Raum
(die vertrauten Häuser vor meiner Stirn
ließ ich sprengen zu Schutt und Ruinen)
Noch einmal auf dünnen Saiten
sind aufgezogen die Fiedeln,
Bögen erheben sich zum Tanz
und fordern die Gesichter auf,
sich aus dem Kreis zu drehen
In dunkle Gewässer hinaus,
segeln mit all dem Treibgut, nachts
auf Schilfhalmen liegend, bleibt,
was ohne Not hinausuferte
FREISCHWIMMER
An L.
Plötzlich fällt ihr die Gabel aus den Fingern
und gezackte Synkopen ragen heraus.
Zwischen Lautsprechertürmen am Ufer
zerteilen sie ihren Fisch in der Mitte.
Da steht sie auf und sticht ins Bandoneon,
sie sticht immerzu, bis das Wasser durch die
Decken fließt und Hunderte roter Schiffe
in der Ferne am Horizont vor Anker gehen
∗∗∗
„Rettet die Kastanie“ steht auf den Segeln.
Ich rolle sie ein und folge dem Flusslauf,
übersetze mir die Sprache der Muscheln.
Und Pfützen spiegeln die Locken im Laub.
REAKTORREAKTION
Einmarsch Putins in die Ukraine am 24. Februar 2022
Worte, aufgerissen im Innersten,
endlos der Qualm des Orchesters,
Panzersperren, verwundeter Beton,
ein Fahnenmeer voller Fragezeichen
blickt auf den vergilbten Himmel.
Rostige Fontänen
drängen zum Fluss der Monitore, schießen meterhoch
durch die weiten Häuserfluchten
Auflösungen im Solidaritätswettbewerb
Reaktorreaktion
Sopranstimmen tönen im Überschall
Das Aquarium quillt aus den Boxen,
schalte jetzt schnell den Notstrom an
und spende auf Care noch ein paar
Millimeter Stille
TRAUM VERSCHÜTTET
Mit Tee leicht verwässert
Die Dias verschwommen
Ein Puzzle – Stimmfetzen
ziehen mich hinein
in den Schacht des Vergessens.
Laken aus Traurigkeit
ausgewrungen nächtlich
umschlungene Körper
Der Traumprojektor klemmt
da war noch was …
Ein üppiger Garten
Satyrskulpturen aus Marmor
blinzeln mir zu
Ich strecke die Hand aus
nach der kostbaren Scherbe
Baumgekrönte Königreiche
Für A.
Mittags lagen wir manchmal
in den Kronen der Bäume
dort oberhalb der Lichtung
Irgendwann zweigten wir ab
und das Blatt, es wechselte
An den Verästelungen
gab es so viele Blätter
Ich hob manche auf und rettete
sie vor dem Verwelken
zahlte sie ein
bei der Ökobank
VALSETTE OUBLIÉ
getanztes Gedicht im Dreiertakt
Maisfelder,
zitternde
Halme am
Rand, offen
hingestreckt,
weiten sich
in das Tal
Auf dem Tisch
Pappfetzen,
Briefmarken,
zerrissen,
hastig verklebt
noch am
blauen Rand
Luftpost dreht
Schleifen, sie
treibt hoch die
windstillen
Silben in
Wolkenstaub
An A
Schwärme plötzlich
hoch aufstrebend
hundertfach in der Sommernacht
treiben pechschwarze Wellen
echolos tief in die Stille
Zwischen atmenden Grashalmen damals
Sommer 83
wolkenverhangenes Schweben
absteigende Bewegung
der im Traum erstickten Blitze
Ungreifbar und unangreifbar
der Mond, der schmutzige Mond
verklebt am Vorhang mit Tesa
lauter vergessene Wörter
sie tauchen unter am Ufer
BÜRGERAMT WARTEBEREICH
Walzer
Gebeugt unter den drückenden Strahlen
der Morgensonne
die Nummern im gläsernen Zählwerk
Endlose Tropfen verdunstender Zeit
ein elender Schlag
schleppt sich dahin von Pause zu Pause
Plötzlich erstarrt die letzte Bewegung
Gerade im Takt
dreht die Frage eine Pirouette
drei Viertel der bleiernen Buchstaben
rutschen hinunter
und bleiben in den grauen Kacheln hängen
VIER GLÄSER SPÄTER
Zwei Sonnenbrillen
begegnen sich
in der M10
Du bist so schön
Du bist so schön
Lass uns gemeinsam
heute schwarzseh'n
FLAMMEN
Lodern
einmal
brennen
Größe
Umarmung
Untergang
tausender
Zungen
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