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Einige Anmerkungen über die Études

Debussys späte Kompositionen, vor allem die Études, gehören für mich zu den wenigen Werken, die ich ohne Zögern mit auf eine einsame Insel, - sagen wir die "Isle Joyeuse" -, mitnehmen würde. Es ist eine Musik, die mich immer wieder nachhaltig, vor allem auch als Komponist beschäftigt.
Jedes Mal, beim Spielen dieser Miniaturen, geht es mir wie dem Archäologen, der im Verlauf seiner Ausgrabungen Stück für Stück neue Schichten freisetzt und Ornamente entschlüsselt. Wie bei den großen Werken, z.B. von Mozart oder Beethoven, gibt es bei jeder neuen Begegnung mit dem Werk, immer wieder überraschende Details zu entdecken. Türen, die wiederum  den Blick auf andere Türen freigeben und Tore öffnen.
Es ist vor allem die schier unendliche Vielschichtigkeit von klanglichen Nuancen, Rhythmen und Tempi, die sich im Spätwerk von Debussy zu einer vollkommenen Einheit zusammenfügt.

Je tiefer man in das Innere der Komposition dringt, umso mehr ist man beeindruckt von einer Geschmeidigkeit der Form und Struktur, die in der Musikgeschichte ihresgleichen sucht.

Es gibt hier kein gerades metrisches Denken wie in der deutsch-österreichischen Musik, alles ist dem Fluidum der Töne untergeordnet. Einzig die Akkordetüde bildet da eine Ausnahme..
Der Titel Études zeugt von einem gepflegten Understatement, das vielleicht nur mit dem alten Bach zu vergleichen ist, der seine Stücke für Tasteninstrumente „Klavierübungen“ genannt hat.

Auch hier begegnen wir einer Musik, die ihre Kraft einzig aus sich selbst bezieht, einer in sich geschlossenen Sprache, der jegliche Äußerlichkeiten und virtuoser Zirkus fremd ist. Daher wird sie auch so selten im Konzertrepertoire gespielt.

Zwar sind die Werke dem äußerlichen Anschein nach noch tonal, jedoch entwickeln die harmonisch-melodischen Bezüge einen Zusammenhang, der jegliche herkömmliche tonale Deutung weit hinter sich lässt. Die Musik ist geprägt von einer individuellen Geste, die sich von jeglicher konventionellen Floskelhaftigkeit befreit hat. Während ein Großteil der Musik; von Schönberg und seinen Schülern aus jener Zeit in der Nachfolge einer großen Wiener Tradition bis hin zu Mahler steht, so gibt es für Debussys Musik keine historischen Vorbilder. Sie steht einzigartig in der Musikgeschichte da und weist weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein.
So nehmen beispielsweise die Étude pour les sonorités opposées das Komponieren in Flächen in der seriellen Musik der Fünfzigerjahre vorweg, andere Werke hingegen erinnern bereits in ihrer radikalen Beschränkung auf die klangliche Entwicklung an die spektralen Kompositionen eines Gerard Grisey aus der Mitte der Siebzigerjahre.

Dieses im besten Sinne „aus der Zeit Fallen“ erinnert an den späten Beethoven, dessen letzte Klaviersonaten und Streichquartette auf direktem Wege (ohne Umweg über die Romantik) ins zwanzigste Jahrhundert führen und dem Publikum bis heute immer neue Rätsel aufgeben.

Wir wissen bei Claude Debussy nicht, wo diese Klänge herkommen und wo sie hingehen.
Es gibt dafür keine zureichende rationale theoretische Erklärung. Und das ist gut so.

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