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Andreas F. Staffel im Gespräch mit dem freien Journalisten und Musikwissenschaftler Pedro Oranova

P.O.: Andreas, was liegt gerade so auf deinem Schreibtisch?

A.S.: Nichts Besonderes, ein Buch über den Gesang vom Aussterben bedrohter Meerestiere (eine Inspirationsquelle für meine neue Oper), Desinfizierungsspray, französisches Mineralwasser, Notenpapier.

P.O.: Wie siehst du die aktuelle Situation der "Neuen Musikszene“ und welchem Lager fühlst du dich zugehörig?

A.S.: Oje, weißt du, ich habe Lager immer gehasst, der Begriff hat ja auch historisch etwas Beklemmendes. Die Neue-Musik-Szene ist da in ihren Strukturen ähnlich konventionell und konformistisch wie die Klassiksparte. Hier wie dort funktioniert das Denken in vordefinierten engen Grenzen, die zu verlassen sich nur wenige trauen und wenn sie dies dann tun, nicht selten wie Parias behandelt werden. So konnte ich es bei einigen Kollegen beobachten, die urplötzlich im Nichts der öffentlichen Wahrnehmung verschwanden. Hier wie dort begegnen einem häufig Menschen, die an Mitglieder einer Sekte erinnern, jene, die Ihre Musikrichtung und Methode apodiktisch vertreten und alles davon abweichende ausgrenzen. Es ist ja genau diese soziale Kälte in der Neuen-Musik-Szene, die letztendlich zu ihrer eigenen Ghettoisierung führt.

Siehst du, dieses ganze Missverständnis fing schon 1945 mit Adornos „Philosophie der Neuen Musik“ an. Der Autor wollte mit dem Buch nach dem Schock der nationalsozialistischen Kulturpolitik eine neue Werteordnung schaffen. Und was machte er: Er schuf letztendlich eine subjektive Werteskala von sogenannter guter und schlechter Musik. Alles, was nicht in die hineinpasste, wurde polemisch ausgegrenzt. Schönberg gegen Strawinsky und die Group de Six (Stichwort Varietémusik), die neue Musik gegen den Jazz etc.

Und dieses Denken hat Generationen von Komponisten nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt. Als ob es diese Werteordnungen bräuchte, Schubladen, mit denen wir uns anmaßen, objektiv über Wert und Unwert von Musik bestimmen zu können. Auch wenn ich vieles, was auf Adornos Wiesengrund gewachsen ist, teile (wie z.B. seine Kritik an der Kommerzialisierung der Musik durch die Werbeindustrie) und die Lektüre seiner "Minima Moralia" jedem Menschen ans Herz lege, bei diesen lächerlichen Kategorisierungen gehe ich nicht mit, fühle die Absicht und rufe meinen Stimmer an.

So ist mir denn auch jener Typus des Neue-Musik-Spießers, der sich anmaßt, über alles urteilen zu können und objektiv über die Definition dessen, was modern ist, Bescheid zu wissen, ein wahrer Gräuel. Hier wie dort gilt für mich persönlich der Grundsatz: Ich weiß, dass ich nichts weiß, und bewahre mir meine Neugier und Offenheit für das Unerwartbare - jenseits der engen Grenzen. Was nicht bedeutet, dass ich nicht selbst vor der Gefahr, ein selbstgerechtes Arschloch zu werden, gefeit bin. Alle einschränkenden und wertenden Sichtweisen lehne ich ab und bewege mich seit jeher jenseits aller Lager und Gruppierungen, man könnte sagen: zwischen allen Stühlen, mit einem Zugang zum Notausgang.

P.O.: Wie würdest du deine Musik definieren?

A.S.: Uff, das ist eine sehr schwierige Frage. Ich habe in den 25 Jahren, in denen ich meine Musik veröffentliche, mich immer darum bemüht, aus den Schubladen zu kommen, aus meinen eigenen im konkreten Sinne und aus den Schubladenvorstellungen der Zuhörer. Daher wird man in meinen Arbeiten immer wieder sehr unterschiedlichen Stilistiken begegnen. Verbindend bei allen Kompositionen ist die ungebrochene Neugier auf die Auslotung der klanglichen Möglichkeiten des Einzeltons.

In der präparierten Klaviersonate "Centaur" z.B. wird das Klavier durchgängig auf acht übereinanderliegenden Systemen notiert. Vor dem Hintergrund der klassischen Sonatenhauptsatzform werden hier die unterschiedlichsten Klangfarben in den verschiedensten Präparierungen miteinander kombiniert. Ich habe hierfür den Begriff "Timbre Polyphonie“ verwendet. Auch der Begriff des „Genre-Bendings“ reizt mich sehr. Jenes Spiel mit scheinbar unzusammenhängenden Formen, Geräuschfugen, Übersetzungen elektronischer Musik auf akustisches Material ("ÜBerLinien II"), banale Alltagstexte in strenger Madrigalform wie in dem Zyklus "Banale Madrigale …".

P.O.: Welche außermusikalischen Einflüsse prägen deine Arbeit?

A.S.: Insbesondere Literatur, Ausstellungen, Theater, Filme, Architektur, aber auch gute Freunde und Fußball.

P.O.: Welche Komponisten haben dich beeinflusst?

A.S.: Von den Klassikern immer wieder Bach, Beethoven, Wagner, Debussy und Bartok, bei den Zeitgenossen insbesondere Ligeti, Lutoslawski, Henze und Gerard Grisey.

P.O.: Wie hoch schätzt du die Macht der offiziellen Institutionen im Bereich der Neuen Musik ein?

A.S.: Die großen „Neue Musikfestivals“ von Darmstadt, Donaueschingen sowie die großen Rundfunkanstalten haben seit Ende des Zweiten Weltkriegs enorme Verdienste für die Entwicklung und Verbreitung der Neuen Musik gesammelt. In den letzten Jahren habe ich jedoch gewisse Wiederholungen und Abnutzungserscheinungen in der Programmgestaltung festgestellt. Wo geht die Reise hin? Ich weiß es nicht …

P.O: Es haben sich in den letzten Jahren aber auch verstärkt immer mehr kleinere Festivals entwickelt.

A.S: Ja, der Ehrgeiz und das Engagement der kleinen Festivalmacher sind enorm und sehr lobenswert. Allerdings habe ich den Eindruck, dass sich bei diesen Veranstaltungen immer die gleichen Leute zusammenfinden. Eine Art Kunsthandwerkermarkt, ein Familientreffen, bei dem das Publikum in der Mehrzahl aus den Komponisten und deren Angehörigen besteht. Am spannendsten ist es dann, wenn Menschen aus den verschiedensten Kreisen zusammenkommen.

P.O: Weswegen du ja auch 2012 den „Kurs auf Neue Musik“ gegründet hast.

A.S.: Genau. Mir war es ein wichtiges Anliegen, neben meinen Schülern und Studenten auch den Menschen von der Straße einen antiakademischen Zugang zur zeitgenössischen Musik zu verschaffen. Und in der Tat erinnere ich mich an vollbesetzte Veranstaltungen von KANM (Kurs auf Neue Musik), wo Leute ohne jede Neue-Musik-Erfahrungen ehrfürchtig dem "Mouvement (- vor der Erstarrung)" von Helmut Lachenmann oder "Atmosphères" von Ligeti gelauscht haben.

P.O.: Wie kam es zur Gründung des Festivals EnCounterpoints?

A.S.: Seit Mai 2009 finden in meinem Musikstudio Ohrpheo regelmäßig neben Konzerten auch Ausstellungen, Lesungen und Filmabende statt. Seither kam es immer wieder zu spannenden Begegnungen zwischen den Künstlern der unterschiedlichsten Stilrichtungen. So entstand eines Tages die Idee, die verschiedensten Sparten wie Malerei, Literatur und Videokunst in einem Festival zusammenzubringen und mit Uraufführungen zeitgenössischer Musik zu verbinden. So wurde 2017 das Festival EnCounterpoints geboren, das seither einmal pro Jahr an einem Wochenende namhafte internationale Künstler an verschiedenen Orten im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg zusammenbringt. Der Name EnCounterpoints steht für Begegnung und Kontrapunkt, für kontrastreiche Programme und stilistischen Abwechslungsreichtum.

P.O: Wie groß ist der Einfluss der sozialen Medien wie z.B. Facebook und Instagram auf die Entwicklung der Neuen-Musik-Konzepte?

A.S.: Das ist meiner Meinung nach schon ein nicht zu unterschätzender Faktor geworden. Für viele Menschen aus weit entfernt liegenden Regionen dieser Welt sind die sozialen Medien eine einzigartige Möglichkeit, auf ihre Werke aufmerksam zu machen und aus ihrem Schattendasein herauszutreten.

Natürlich versprechen die sozialen Medien was auch immer schaffenden Kreativen eine maximale temporäre Aufmerksamkeit, wobei auch Bildbearbeitungsprogramme und Videos und eine schnelle Vernetzung eine wichtige Rolle spielen. Auf diese Weise lässt sich andererseits natürlich auch sehr viel manipulieren und simulieren. Das sind Kulturtechniken - wenn man das so nennen darf -, von denen frühere Generationen nur träumen konnten. Die ganzen elektronischen Netzwerke erinnern zuweilen an eine gigantische Blase, in welcher sich jeder mit einer riesigen Luftpumpe einmal so richtig aufplustern kann. Mir reicht oft ein Equipment aus Bleistift, Radiergummi und Lineal im Vergleich zu einer riesigen Materialschlacht von Lautsprechern, Kabeln und Kameras.

Was die sozialen Netzwerke betrifft, so erscheinen mir Facebook und Instagram mittlerweile wie alternde Prostituierte, die mühsam ihre welkenden Reize präsentieren.

P.O.: Wobei jedoch die Reize nur selten jenseits der Oberfläche gelegen haben.

A.S.: Exakt. Eine Einrichtung wie Facebook ist ja auch so angelegt. Was ist leichter, als für jeden Blödsinn den „Likebutton“ zu drücken, das erspart jedwede inhaltliche Auseinandersetzung. Oder nehmen Sie z. B. das Posten von zweitem Wissen, irgendwelche Netzfundstücke, Videos oder pseudowissenschaftliche Texte, für deren Veröffentlichung man sich absurderweise liken lassen kann, als wäre es die eigene Gedankenleistung. Dümmlicher geht’s wirklich nimmer. Und die“ Likefliegen“ legen sich reflexartig darüber. Da man also alles nachmachen kann, auch im Bereich der Musik, ist die Grenze zwischen Authentizität und Kopie immer schwerer zu unterscheiden. Aber lassen wir diesen Kulturpessimismus, solange wir uns dessen bewusst sind, dass dies alles ein Spiel ist, das auch intelligent und vor allem mit Humor gespielt werden kann.

P.O.: Fluch und Segen also?

A.S.: Wenn du so willst, ja. Die technischen Medien im audio-visuellen Bereich haben sich ja enorm entwickelt. So können Sie z. B. mit preiswerten asiatischen Geräten und Gadgets bereits die Klänge der ganzen Welt aufnehmen und mit KI zusammenwürfeln. Das schöpferische Individuum hat dadurch eine Macht, mittels derer es sich wie ein Gott fühlen kann. Die Art und Weise, wie das geschieht, macht eben gute oder schlechte Kunst aus. Da es allgemein beim herkömmlichen Publikum nur ein geringes Verständnis für multimediale Kunst gibt, gelten natürlich auch wenige Richtlinien, die qualitative Maßstäbe setzen.

Lächerlich finde ich, dass mittlerweile fast jeder Komponist glaubt, ein Video und Objekte seinen Werken hinzufügen zu müssen. Das ist wie eine Mode, ein Mittel, mit dem viele glauben, sich Zugang zu Festivals verschaffen und Aktualität vorgaukeln zu können. Die Musik tritt immer weiter in den Hintergrund, und nicht selten versucht der „Overkill“ an reizüberflutenden Bildern und Geräuschen einen eklatanten Mangel an Einfall zu übertünchen. Wenn so viele die gleichen Mittel verwenden, dann ist das auch eine eintönige und epigonale Kultur. Oder nennen wir es 3-D-Kultur: Eine Diktatur des digitalen Dilettantismus.

P.O.: Wie beurteilst du Stile wie den „Neuen Konzeptualismus“ und die Erzeugnisse einer „New Complexity“?

A.S.: Gemeinsam an beiden, dem Neuen Konceptualismus und der neuen Komplexität, ist, dass das Attribut „Neu“ schon etwas verblichen zu sein scheint. Die ultrakomplexe Notationsweise der New Complexity basiert auf dem Schaffen der Ikone Brian Ferneyhough. Während ich bei Letzterem sowohl seine Konsequenz als auch die Spiritualität seiner Musik bewundere, so finde ich seine zahlreichen Jünger aus Europa, Asien, Amerika schlichtweg langweilig. Ich konnte das in Darmstadt beobachten, wo es regelrecht Handgreiflichkeiten um die Aufnahme in Ferneyhoughs Kompositionsklasse gab. Wie auch immer, die Kompositionen der Teilnehmer waren dann auch schlichtweg Stilkopien, die mit viel Notenschwärze und der Umklammerung der Klammer eine vordergründige Komplexität simulierten. Mein neues Klavierstück heißt daher auch: „New Complexity“ is really old fashioned.

Der Konzeptualismus hat durch das Buch von Harry Lehmann (Die digitale Revolution, Mainz 2012) eine Art Reanimation erfahren. Was mir an den Komponisten dieser Stilrichtung gefällt, ist, dass diese auf virtuose Weise die elektronischen Medien für sich zu nutzen wissen. Was die Inhalte betrifft, so scheint mir, dass auch hier die Musik bei der Demonstration der digitalen Möglichkeiten in den Hintergrund tritt. Ich persönlich finde es viel reizvoller, wenn die Technik dem musikalischen Einfall dient und nicht die Musik der technologischen Einfalt.

P.O.: Und, wie geht es weiter? Wie sind die Aussichten? Die Moderne scheint ja tot zu sein, und die Postmoderne liegt ja wohl auch schon in den letzten Zügen …

A.S.: Na ja, beinahe alles wird nur noch mühsam mit staatlichen Mitteln hochsubventioniert, zieht man auch noch diesen Stecker, so wird’s ganz düster. Diesen Kulturpessimismus hat es aber schon zu allen Zeiten gegeben, und es ist immer weitergegangen.

Ja, ich glaube, dass wir Künstler Wege finden müssen, unseren engen, selbstreferentiellen Raum zu verlassen, um uns vermehrt auf die sozialen Aufgaben in einer immer komplizierter werdenden Zeit zu besinnen. Die Kunst darf sich nicht nur selbst genügen und sollte einen Weg zu den Menschen finden, ohne dabei ihren höchsten Anspruch zu verlieren. Vielleicht sollten wir wieder vermehrt soziale Plastiken formen, wie es Beuys immer gefordert hat. Wir erleben es, dass die Kunst wieder politischer wird. Und die Notwendigkeit steigt, in diesen dramatischen Zeiten Stellung zu beziehen. Für den Komponisten von heute sehe ich es als eine Aufgabe an, immer wieder neue Eindrücke aufzusaugen, stetig neue Ausdrucksformen und Mittel zu erkunden und mit Fantasie und überraschenden Einfällen zu erfüllen. Niemals, niemals irgendwo stehen bleiben.

P.O.: Ich danke dir für das Gespräch.

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